Chess & Tactics: The Evaluation of Chess Positions

Schach & Taktik: Die Bewertung von Schachstellungen

Jeder Schachspieler steht vor der Herausforderung, die Stellung seiner Schachfiguren auf dem Schachbrett zu bewerten. Doch zu welchem Zeitpunkt ist eine Stellung offensichtlich und zeigt deutlich die Schachfigur, die gezogen werden muss? Wann kann der Spieler durch einen zügigen Schachzug Zeit einsparen? Wann muss er sich intensiv mit der Spielsituation auseinandersetzen und Zeit wohlüberlegt investieren? Im nachfolgenden Artikel möchte ich einen näheren Blick auf die Faktoren werfen, die bei der Bewertung einer Schachstellung wichtig sind. Zur Vollständigkeit gehe ich auch noch auf ein paar Grundlagen ein, die für die Bewertung herangezogen werden sollten, und konzentriere mich primär auf das Mittelspiel, um der Komplexität gerecht zu werden.

 

Die Bedeutung der Stellungsbewertung im Schach

Aufgrund der deutlich besseren Analysemöglichkeiten durch Computer und insbesondere auch durch künstliche Intelligenzen in den letzten Jahren, hat der Wettbewerb im Schach stark zugenommen. Was vor hundert Jahren noch als guter Schachzug bewertet wurde, kann heute den Verlust der Partie bedeuten. Und das nicht, weil damals der Schachzug tatsächlich gut war, sondern vielmehr, weil der Gegenspieler schlichtweg nicht alle Kontermöglichkeiten im Repertoire hatte. Die unzähligen berühmten Schachfallen, die aus der Eröffnung heraus einen schnellen Sieg versprechen, sind ein gutes Beispiel hierfür.

Das berühmte Schäfermatt nach vier Schachzügen

Das berühmte Schäfermatt nach vier Schachzügen:
Die Dame zieht über h5 auf das ungeschützte Schachfeld f7. Schwarz hat seine Verteidigung vernachlässigt. Durch den Schutz des Läufers folgt Schachmatt.

Auch wenn die Bewertung der Schachstellung schon immer das wichtigste Kriterium für den nächsten Schachzug darstellte, so gibt es heute eine deutlich geringere Fehlertoleranz. Das heißt folglich auch, dass jeder Schachspieler sich methodisch viel umfangreicher auf die Beurteilung seiner Spielsituationen vorbereiten muss. Da die Zeit im Schach zudem immer eine wichtige Rolle spielt, muss die Analyse des Spiels daher möglichst effizient erfolgen.

 

Wichtige Faktoren bei der Analyse der Schachstellung

Schach gehört zu den komplexesten Brettspielen der Welt. Eine vollständige Analyse einer Spielsituation, insbesondere unter Zeitdruck, ist daher so gut wie unmöglich. Dennoch können bestimmte Konstellationen immer beurteilt und bei der Entscheidungsfindung über den nächsten Schachzug berücksichtigt werden. Die Herausforderung liegt hier darin, möglichst schnell ein Muster in der Schachstellung zu erkennen, das Aufschluss über Chancen und Risiken offenbart.

 

Materialwert & Materialverhältnis

Auch wenn der Materialwert der Schachfiguren zum Grundwissen gehört, so möchte ich dieses der Vollständigkeit halber hier noch einmal erläutern. Alle Schachfiguren haben einen Wert, der sich zur Vereinfachung am über den Gegenwert eines Bauern definiert. Nachfolgend eine Übersicht:

  • König = ∞
  • Dame = 9
  • Turm = 5
  • Läufer = 3
  • Springer = 3
  • Bauer = 1

Der Wert des Königs ist nicht zu bemessen, da sein Schutz er über Sieg und Niederlage entscheidet. Die Dame hat den Gegenwert von 9 Bauern, was sie zur wertvollsten Schachfigur auf dem Schachbrett macht. Auf die Dame folgt der Turm, der über einen Wert von 5 Bauern verfügt. Läufer und Springer werden mit 3 Bauern bewertet, wobei hier oftmals Uneinigkeit besteht. Der Läufer wird von vielen als etwas stärker bewertet als der Springer. Der Bauer stellt schließlich den Gegenwert von 1 dar.

Die Bewertung einer Spielsituation oder einer Schachstellung sollte immer vor den Hintergrund dieser Gegenwerte erfolgen, da sie ein Maßstab für die Schlagkraft aber auch für die Verteidigung darstellen können. Es gibt hier jedoch einige Ausnahmen, dazu später mehr. Wichtig ist jedoch immer, dass das Schlagen von Schachfiguren nur dann erfolgen sollte, wenn daraus auch wirklich ein taktischer oder strategischer Vorteil entsteht. Liegt ein Spieler bspw. im Materialwert zurück, so ist das Abtauschen von Schachfiguren ohne erkennbaren Vorteil stets ein Nachteil und sollte soweit möglich vermieden werden.

 

Die Königssicherheit

Die erste Beurteilung der Schachstellung ist die Sicherstellung der Königssicherheit. Wird mein König bedroht? Habe ich schon eine Rochade durchgeführt? Ist eine Schachfigur zur Verteidigung meines Königs gefesselt? Es gibt viele Spielsituationen, die den König betreffen, auch wenn dieser erst im Endspiel wirklich aktiv wird. Um sich mehr auf den Angriff konzentrieren zu können ist es daher wichtig, den eigenen König in Sicherheit zu bringen und auch bei den eigenen Schachzügen darauf zu achten, ihn nicht zu vernachlässigen. Ein gutes Beispiel ist das Grundreihenmatt, dass auch im Mittelspiel auftreten kann, wenn man seinen König zwar schützt, ihn aber keine Bewegungsfreiheit einräumt.

Grundreihenmatt im Mittelspiel

Grundreihenmatt im Mittelspiel:
Der Turm zieht auf b8 und zwingt den schwarzen Läufer auf f8. Mit Unterstützung des weißen Läufers über h6 ist der Sieg sicher.

In der Anfangsphase des Spiels sollte also nach dem Ziehen der Springer und Läufer auch rochiert und eine Ausweichmöglichkeit für den König geschaffen werden. Ein einfacher Bauernzug auf der a- oder h-Linie könnte dafür schon ausreichend sein. Bei der Analyse der Schachstellung hat die Prüfung der Königssicherheit erste Priorität. Es muss unbedingt vermieden werden, durch einen geschwächten König in Zugzwang zu kommen.

 

Konkrete Drohungen beider Spieler

Auf den Drohungen liegt das Hauptaugenmerk. Sie sind zum einen die größte Gefahr, da sie das taktische Ziel des Gegners darstellen, zum anderen aber auch eine große Chance, den Gegner unter Druck zu setzen. Die häufigsten Bedrohungen in der Eröffnung und im Mittelspiel gehen von den Springern und Läufern aus, da sie schnell ins Spiel kommen eine komplexe Dynamik erzeugen. Darauf folgen in der Regel die Dame und die Türme, die zwar später und behutsamer, dafür aber auch schlagkräftiger gezogen werden.

Zur Analyse der Spielsituation sollten die bestehen Angriffsmöglichkeiten dieser Schachfiguren in jedem Schachzug neu bewertet werden. Und hier ist es wichtig, dass dies auch wirklich stets aufs Neue erfolgt. Oftmals sind Spieler so sehr auf ihre eigenen Angriffe und Motive fokussiert, dass die Drohungen des Gegners unbemerkt bleiben oder einfach übersehen werden. Dies ist der Hauptgrund für Patzer im Schach, die den Verlust einer Schachfigur oder sogar den Verlust des ganzen Spiels nach sich ziehen.

Eine gute Möglichkeit, die Bewertung derartiger Spielsituationen zu trainieren, sind Taktikaufgaben. Bekannte Schachportale wie www.lichess.org oder www.chess.com bieten hier ein großes Repertoire.

Die Suche nach dem besten Manöver in einer Taktikaufgabe

Die Suche nach dem besten Manöver in einer Taktikaufgabe
(Lösung weiter unten)

Das große Problem hierbei ist jedoch, dass das Training mit diesen Aufgaben nicht direkt auf eine reale Spielsituation übertragen werden kann. Die Taktikaufgabe gibt stets eine Spielsituation vor, in der ein wichtiges taktisches Manöver möglich ist. In einem regulären Schachspiel ist hingegen nicht ersichtlich, wann durch Überlegung ein geschickter Schachzug das Spiel gewinnen kann. Im obigen Beispiel liegt eine komplexe Spielsituation vor, die zu jeder Zeit im Mittelspiels auftreten könnte. Doch wie erkennt man, dass genau jetzt intensiv nach einem herausragenden Schachzug gesucht werden sollte?

Dennoch sollte auf das Üben mit diesen sogenannten Schachpuzzeln nicht verzichtet werden. Diese fördern zwar nicht die Identifikation einer entscheidenden Spielsituation, jedoch kann mit guter Übung die Schnelligkeit der Spiel-Analyse deutlich erhöht werden.

In der obigen Aufgabe ist die Lösung übrigens die folgende:
Schwarz zieht mit seiner Dame auf d4 und setzt den weißen König unter Zugzwang, da der Springer auf f3 gefesselt ist. Dann schlägt Schwarz den weißen Läufer auf c4. Das Erkennen des ungeschützten Läufers und der Fesselung stellten hierbei gleich zwei Herausforderungen dar, die in Kombination zum Gewinn des Läufers führten.

 

Stärken und Schwächen der Bauernstrukturen

Die Bauernstrukturen beider Spieler definieren auch die Struktur des Spielablaufs. Nicht selten entstehen Angriffsmöglichkeiten erst durch das Durchbrechen einer Bauernstruktur oder durch den Vorstoß eines Bauern selbst. Doch genauso oft können Angriffe durch das Vorziehen eines einfachen Bauern unterbunden werden. Es ist wichtig zu wissen, dass die Vernachlässigung der Bauern zum einen die Bewegungsfreiheit aller anderen Schachfiguren einschränkt und zum anderen im späteren Spielverlauf weniger Offensivmöglichkeiten für eine Bauernumwandlung generiert. Auch können sie zum Verlust einer Partie beitragen, wenn sie nicht bewegt werden und den eigenen König einengen. Viele berühmte Partien endeten mit einem König, der umzingelt von eigenen Bauern keinen Ausweg finden konnte (siehe Königssicherheit weiter oben).

Für die Beurteilung der Spielsituation ist es daher wichtig, Schwachstellen in der gegnerischen Bauernstruktur zu finden und eigene Schwachstellen zu vermeiden. Dabei liegt die Herausforderung oftmals nicht im Angriff, sondern darin, beim nächsten Schachzug einen Bauern und nicht einen Springer oder Läufer den Vorzug zu geben. Viele Spieler versuchen, dieses sogenannte langsame Spiel zu vermeiden, weil ein passiver Spielstil als nachteilig erachtet wird. Dies führt dazu, dass die Bauern nur aus Notwendigkeit heraus bewegt und ihr Potenzial bei der Bewertung der Stellung unbeachtet bleibt.

 

Die Aktivität der Schachfiguren

Auch wenn alle Schachfiguren einen Materialwert haben, so ist dieser in einer Spielsituation im hohen Maße variabel. Eine Dame, die sich nicht bewegen kann, ist trotz ihres hohen Materialwertes nutzlos. In einer Schachstellung kann dies bedeuten, dass ein gegnerischer Läufer nur aufgrund seiner Position wertvoller sein kann, als der eigene Läufer. Steht ein König nach seiner Rochade auf einem dunklen Schachfeld, so steigt automatisch der Wert des gegnerischen Läufers, der sich ebenfalls auf den dunklen Schachfeldern bewegt und den König im Verlaufe des Spiels angreifen könnte.

Früher Röntgenangriff des Läufers auf den König

Der Läufer zielt auf das Schachfeld des Königs und kann im Verlauf des Spiels zu einer Gefahr werden

Auch die Türme können nicht immer ihr ganzes Potenzial ausspielen. In stark umkämpften Schachpartien kann es vorkommen, dass ein Sieger feststeht, bevor ein Turm überhaupt Einzug ins Spiel finden konnte. Wenn sich eine solche Situation abzeichnet, sollten Schachfiguren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht relevant für den Ausgang der Partie sind, auch nicht als potenzielle Ziele für einen Angriffszug ausgemacht werden.

 

Die Raumvorteile und Raumnachteile

Die Stärke einer jeden Schachfigur hängt davon ab, wie gut sie sich auf dem Schachbrett bewegen kann. Ein Raumvorteil besteht folglich, wenn die eigenen Schachfiguren über mehr Bewegungs-, Angriffs- oder Verteidigungsoptionen verfügen, als die des Gegners. Ob ein Spieler im Vor- oder Nachteil gerät, kann auf unterschiedlichen Faktoren beruhen. Fehler führen in der Regel natürlich zu Raumnachteilen, während ein cleverer Schachzug das halbe Schachbrett erobern kann. Doch auch die Wahl der Schach-Eröffnung hat einen wesentlichen Einfluss. Oftmals überlässt Schwarz seinem Gegenspieler mehr Raum im Zentrum, um sich taktisch auf einen Konter vorzubereiten. Doch wie wird ein Raumvorteil beurteilt und welchen Einfluss hat dieser auf die Entscheidung für den nächsten Schachzug? Diese Frage ist besonders schwierig, da hier alle Einflussfaktoren miteinander wechselwirken. Dennoch sollte die Schachstellung auf folgende Punkte geprüft werden:

  • Zentrumskontrolle
  • Offene Linien und Diagonalen
  • Bauernstrukturen
  • Blockaden
  • Aktivität der Schachfiguren

 

Raumvorteil im Schach

Der Raum wird durch die Bauernstrukturen bestimmt, doch Schwarz hat einen entscheidenden Vorteil

In diesem Beispiel erscheint die Schachstellung ausgeglichen. Doch Schwarz verfügt über einen deutlich mobileren Springer, während Weiß nur seinen Läufer hat, der zudem von seinen eigenen Bauern blockiert wird. Um nun sicherzustellen, dass der Springer seine Stärke auch nutzen kann, muss Schwarz seinen König schnellstmöglich in den Angriff ziehen.

 

Fazit

Die Beurteilung der Schachstellung ist die größte Herausforderung im Schach und Maßstab für die Spielstärke des Spielers. Ohne eine klare Struktur und Beurteilung aller möglichen Dynamiken ist eine effiziente Suche nach dem besten Schachzug nahezu unmöglich. Doch durch die Aufarbeitung und Klassifizierung der verschiedenen Analyse-Faktoren ist zumindest eine Checkliste möglich, die einen Beitrag zur Senkung der Fehlerquote leisten kann.

Ich hoffe, mein Guide konnte dir bei der Bewertung deiner Schachstellung helfen und neue Ansatzpunkte für das Finden des besten Schachzuges bieten. Wenn du Schach auch auf dem Schachbrett spielst, schau doch einmal in meinem Sortiment an Staunton-Schachfiguren und Schachbrettern vorbei. Ich führe eine breite Auswahl an handverarbeiteten Produkten in Turnierformat.

 

Ich wünsche dir viel Spaß am Spiel, viel Erfolg und zügige Fortschritte beim Lernen.

Bis bald.

 

Stefan

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